Donnerstag, 18. April 2013

Mit erhobenem Herzen


Wo fange ich an?

Vielleicht beim Ende. Ich sitze wieder in München und möchte zurück. Zumindest das Kind in mir.
Das liegt nicht daran, dass ich mich nicht auf die Menschen hier gefreut habe. Oder dass mein Geburtstag aufgrund starkem Jetlag der beiläufigste und gleichzeitig anstrengendste Geburtstag meines Lebens war. Auch nicht, weil es mir hier zu kalt ist, obwohl nun anscheinend der Frühling sein blaues Band wirft.
Nein, ich will zurück, weil Loslassen so schwierig ist und das, was ich am wenigstens kann.
Ich ertappe mich dabei, wie ich an die Wand starre, weil vor meinem inneren Auge Bilder tanzen. Wie ich zum Beispiel in einer Strandhütte Wäsche wasche und aufhänge. Wie sich nachts ein kleines Kätzchen hereinschleicht und mich zu Tode erschreckt. Wie ich staunend um halb 7 morgens vor dem Taj Mahal stehe und sehe, wie die aufgehende Sonne den weißen Marmor in warmes Licht taucht. Wie ich auf dem Roller sitze, mich am Anderen festhalte und mein Blick sich in der dschungelartigen Landschaft verliert. Wie ich dem kleinen Betteljungen in Jodhpur eine Spritzpistole kaufe, damit er das Holi-Festival feiern kann. Und wie seine Augen strahlen, als er sie wie eine Trophäe in der Hand hält.

Reisen ist Zauberei. Es macht alles mit dir, was du brauchst, um zu wachsen, aber es zu verstehen benötigt seine Zeit.
Du wirst verwöhnt, begeistert, mitgerissen. Du wirst aber auch an deine Grenzen gebracht, wenn die körperliche Erschöpfung naht oder die Armut, mit der du ungefiltert konfrontiert wirst, kaum zu ertragen ist. Und genau diese Mischung ist es, die wir brauchen, um über den Tellerrand zu schauen. Zu sehen, wie viele Geschenke wir tagtäglich bekommen. Sei es ein Lächeln in den Slums von Mumbai oder ein unfassbar leckeres Abendessen.

Jeder Tag ist ein Geschenk. Jeder Mensch, der ihn mit uns teilt, ist ein Geschenk. Wenn ein Tag nicht so gelaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, dann war ich schlecht gelaunt und launisch. Bis es dafür etwas anderes zu entdecken gab. Und auf einmal war ein Richtungswechsel möglich, den ich vorher nicht gesehen hatte. Zum Beispiel musste es so sein, dass uns eine Stadt eben nicht gefiel, um die Rucksäcke zu packen und an den Ort zurückzukehren, an den es uns sowieso die ganze Zeit hingezogen hatte. Und wenn mir mal jemand blöd kam, dann habe ich gelernt, ihn gekonnt in die Schranken zu weisen und daran aber auch gleichzeitig erkannt, wie wenige dieser Menschen mir überhaupt über den Weg laufen.
Das war dann wieder ein Geschenk.

Jetzt bin ich zurück und versuche, meine alten Denkmuster zu belächeln. Mein typisches Deutsch-Sein. Denn ich fange natürlich schon an, mich über die Dinge aufzuregen, die es in Indien gar nicht gegeben hatte. Ereignisse, die ich dort größtenteils belächelt habe, finde ich hier ganz schnell furchtbar nervend, weil alle sich aufregen und man automatisch mitzieht. Daher versuche ich gerade herauszufinden, wie ich die perfekte Gradwanderung schaffe, meine Erlebnisse weiterhin in mir zu tragen und weiterzugeben, aber ohne mich in Tagträumen zu verlieren.

Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir in einem der besten Länder der Welt leben. Hier gibt es alles in Hülle und Fülle, der größte Luxus liegt vor unseren Füßen, jedoch sehen wir ihn nicht. Gleichzeitig sollten wir uns vor Augen halten, was wir von Menschen lernen können, die viel weniger haben und doch bzw. gerade deswegen so viel genügsamer sind.

Wie funktioniert es, nicht immer gleich die ganze Hand zu wollen, wenn einem mal der Finger gereicht wird?

Wie funktioniert es, einfach mal anzunehmen, ohne sich schlecht zu fühlen und gleich etwas zurückgeben zu müssen?

Wie funktioniert es, eine Diskussion zu führen, ohne zu streiten, Mitmenschen zu beleidigen und sich in der Opferrolle zu suhlen?

Wie funktioniert es, von einem anderen Menschen nichts zu verlangen und ihn so sein zu lassen, wie er ist?

Wie funktioniert es, nichts zu tun?

Ausprobieren. Reisen gehen und diesen wundervollen Planeten kennenlernen. Vor allem Ländern eine Chance geben, die so verwirren und faszinieren, wie Indien. Länder, die zeigen, dass es auch anders geht.
Einer der ersten Sätze, den ich dort gelesen habe, war ein deutsches Zitat, geschrieben an eine Tapete in einem der dreckigsten Löcher, in denen ich gegessen habe. „Die Rationalität kämpft und verliert gegen Indien“.

Ich wünsche mir, dass sie irgendwann gegen die ganze Welt verliert. Dass wir uns unsere berechtigte Verrücktheit eingestehen. Nicht immer alles in Frage stellen. Fühlen. Und erhobenen Herzens von Land zu Land ziehen.

Für D., weil du alle meine Launen mit Gelassenheit ertragen hast, immer Licht uns Dunkel gebracht hast und mich zurechtgewiesen hast, wenn es nötig war.

© 2013 Ani