Wo fange ich an?
Vielleicht beim Ende. Ich
sitze wieder in München und möchte zurück. Zumindest das Kind in mir.
Das liegt nicht daran, dass
ich mich nicht auf die Menschen hier gefreut habe. Oder dass mein Geburtstag
aufgrund starkem Jetlag der beiläufigste und gleichzeitig anstrengendste Geburtstag
meines Lebens war. Auch nicht, weil es mir hier zu kalt ist, obwohl nun
anscheinend der Frühling sein blaues Band wirft.
Nein, ich will zurück, weil
Loslassen so schwierig ist und das, was ich am wenigstens kann.
Ich ertappe mich dabei, wie
ich an die Wand starre, weil vor meinem inneren Auge Bilder tanzen. Wie ich zum
Beispiel in einer Strandhütte Wäsche wasche und aufhänge. Wie sich nachts ein
kleines Kätzchen hereinschleicht und mich zu Tode erschreckt. Wie ich staunend
um halb 7 morgens vor dem Taj Mahal stehe und sehe, wie die aufgehende Sonne den
weißen Marmor in warmes Licht taucht. Wie ich auf dem Roller sitze, mich am
Anderen festhalte und mein Blick sich in der dschungelartigen Landschaft verliert.
Wie ich dem kleinen Betteljungen in Jodhpur eine Spritzpistole kaufe, damit er
das Holi-Festival feiern kann. Und wie seine Augen strahlen, als er sie wie
eine Trophäe in der Hand hält.
Reisen ist Zauberei. Es macht
alles mit dir, was du brauchst, um zu wachsen, aber es zu verstehen benötigt
seine Zeit.
Du wirst verwöhnt,
begeistert, mitgerissen. Du wirst aber auch an deine Grenzen gebracht, wenn die
körperliche Erschöpfung naht oder die Armut, mit der du ungefiltert
konfrontiert wirst, kaum zu ertragen ist. Und genau diese Mischung ist es, die
wir brauchen, um über den Tellerrand zu schauen. Zu sehen, wie viele Geschenke
wir tagtäglich bekommen. Sei es ein Lächeln in den Slums von Mumbai oder ein
unfassbar leckeres Abendessen.
Jeder Tag ist ein Geschenk.
Jeder Mensch, der ihn mit uns teilt, ist ein Geschenk. Wenn ein Tag nicht so
gelaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, dann war ich schlecht gelaunt
und launisch. Bis es dafür etwas anderes zu entdecken gab. Und auf einmal war
ein Richtungswechsel möglich, den ich vorher nicht gesehen hatte. Zum Beispiel
musste es so sein, dass uns eine Stadt eben nicht
gefiel, um die Rucksäcke zu packen und an den Ort zurückzukehren, an den es uns
sowieso die ganze Zeit hingezogen hatte. Und wenn mir mal jemand blöd kam, dann
habe ich gelernt, ihn gekonnt in die Schranken zu weisen und daran aber auch
gleichzeitig erkannt, wie wenige dieser Menschen mir überhaupt über den Weg
laufen.
Das war dann wieder ein
Geschenk.
Jetzt bin ich zurück und versuche,
meine alten Denkmuster zu belächeln. Mein typisches Deutsch-Sein. Denn ich
fange natürlich schon an, mich über die Dinge aufzuregen, die es in Indien gar
nicht gegeben hatte. Ereignisse, die ich dort größtenteils belächelt habe,
finde ich hier ganz schnell furchtbar nervend, weil alle sich aufregen und man
automatisch mitzieht. Daher versuche ich gerade herauszufinden, wie ich die
perfekte Gradwanderung schaffe, meine Erlebnisse weiterhin in mir zu tragen und
weiterzugeben, aber ohne mich in Tagträumen zu verlieren.
Es ist wichtig, zu erkennen, dass
wir in einem der besten Länder der Welt leben. Hier gibt es alles in Hülle und
Fülle, der größte Luxus liegt vor unseren Füßen, jedoch sehen wir ihn nicht.
Gleichzeitig sollten wir uns vor Augen halten, was wir von Menschen lernen
können, die viel weniger haben und doch bzw. gerade deswegen so viel genügsamer
sind.
Wie funktioniert es, nicht
immer gleich die ganze Hand zu wollen, wenn einem mal der Finger gereicht wird?
Wie funktioniert es, einfach
mal anzunehmen, ohne sich schlecht zu fühlen und gleich etwas zurückgeben zu
müssen?
Wie funktioniert es, eine
Diskussion zu führen, ohne zu streiten, Mitmenschen zu beleidigen und sich in
der Opferrolle zu suhlen?
Wie funktioniert es, von
einem anderen Menschen nichts zu verlangen und ihn so sein zu lassen, wie er
ist?
Wie funktioniert es, nichts
zu tun?
Ausprobieren. Reisen gehen
und diesen wundervollen Planeten kennenlernen. Vor allem Ländern eine Chance
geben, die so verwirren und faszinieren, wie Indien. Länder, die zeigen, dass
es auch anders geht.
Einer der ersten Sätze, den
ich dort gelesen habe, war ein deutsches Zitat, geschrieben an eine Tapete in
einem der dreckigsten Löcher, in denen ich gegessen habe. „Die Rationalität kämpft und verliert gegen Indien“.
Ich wünsche mir, dass sie
irgendwann gegen die ganze Welt verliert. Dass wir uns unsere berechtigte
Verrücktheit eingestehen. Nicht immer alles in Frage stellen. Fühlen. Und erhobenen
Herzens von Land zu Land ziehen.
Für D., weil du alle meine
Launen mit Gelassenheit ertragen hast, immer Licht uns Dunkel gebracht hast und
mich zurechtgewiesen hast, wenn es nötig war.
© 2013 Ani