Donnerstag, 19. Juli 2012

Ich bin du und wir seid ihr

(aus dem Kopf meines inneren Kindes)


Ich luge unsicher aus meiner Wohnungstür, weil ich mich nicht traue, ganz nach draußen zu gehen. Die Nachbarstür gegenüber knallte mittlerweile schon das zweite Mal so laut, dass ich zusammenzuckte. Vor der Tür steht ein riesiger Sack Müll. Im Vorbeigehen spähe ich darauf und ertappe mich dabei, wie ich mir denke „oh cool, der trinkt auch Sojamilch, so wie ich!“
Dann gehe ich in den Keller, hole meine Wäsche, steige in den Aufzug und fahre zurück in den fünften Stock. Oben angekommen höre ich schon im Aufzug die Schreie aus der Nachbarswohnung. Verunsichert, wie ein kleines Mädchen, trippele ich vorsichtig an der Tür vorbei, meinen Wäschekorb vor mir, zur Not als Waffe fungierend. In dem Moment wird die Tür erneut aufgerissen, ich husche weiter und wage gar nicht, mich umzudrehen. Mit einem donnernden Knall fällt sie wieder ins Schloss und ich verbarrikadiere mich in meiner Wohnung. Dort angekommen fällt mir das Foto von mir ins Auge, was seit kurzem an meinem Spiegel hängt. Gedankenverloren schaue ich darauf und seufze (erneut).

Was ist denn los, warum ist derzeit jeder so unglaublich emotional? Warum schreit mein Nachbar immer noch gegen dieses Flüstern der anderen Person in seiner Wohnung an? Warum schreibt mir meine Freundin, dass sie gerade auf ihrem Fahrrad fast von einem Opa überfahren wurde, dieser auch noch aus dem Wagen ausstieg, ihr den Vogel zeigte und sie beschimpfte? Warum nervt mich derzeit jeder bezüglich des Wetters? Haben die Leute kein Leben außerhalb ihres Wetterfrosches? Haben sie alle vergessen, dass wir schon vier Wochen puren Sonnenschein hinter uns haben und letztes Jahr bei mild-konstanten 13°C und Dauerregen durch die Straßen gestapft sind?

Wo ich hinschaue, sind die Menschen gerade in Wallung. Manche weinen, Andere sind aggressiv, die Nächsten reagieren unglaublich launisch – fast alle ohne (ersichtlichen) Grund.
Mein Guru sagt, dass man bei solchen Emotionen inne halten soll und mal nachschauen soll, ob das überhaupt die Eigenen seien.

Wie meinen?

Nun ja, wenn man z. B. ein langes Gespräch am Telefon mit jemandem geführt hat, der unglaublich wütend war, man Ewigkeiten zuhörte, dann Ratschläge gab und sich nach mehreren Stunden gemeinsam im Kreis gedreht hatte, dann kann es gut sein, dass man auflegt und auf einmal selbst wütend ist. Warum auch immer, das ist sozusagen eine Emo-Übernahme. Wahrscheinlich, weil immer etwas in einem ist, was mit der Emotion des Anderen sympathisiert – z. B. was den unfassbar dreisten Opa angeht, den ich gut und gerne über mein Knie legen würde, wenn er meine Freundin noch einmal so behandelt. Da kann er noch so viele Kriegsleiden auspacken, ich leide auch, vielleicht nicht unter Hungersnot, aber mindestens mal unter dem Verhalten von Mitmenschen.

Früher. Da sind wir halt in solchen Dreckssommern durch die Pfützen gesprungen. Und wenn jemand fies zu uns war, dann haben wir ihm eine Backpfeife verpasst - genau so, wie mein Papa mir das damals gelernt hatte, als der Oli mich von der Hüpfburg schubste (hoffentlich liest der das, der Oli). Und dann wars auch wieder gut. Es gab immer Pflaster für ALLES und spätestens am Ende des Tages eine große Portion Harmonie. Es ist sinnlos, da wieder hinzuwollen, in diese Zeit, wo Clubs gegründet wurden und Emotionen nicht subtil, sondern plakativ und dadurch soviel einfacher waren. Aber wenn das innere Kind so heftig an die Tür klopft, dann sollte man es einfach mal wieder reinlassen. Und glücklich sein/werden.

Ich gehe zurück zu meinem Spiegel und schaue das Foto an. Es ist kein gut geschossenes Bild, durch das Gegenlicht der Sonne ist es relativ dunkel, die Strapazen der Tage sind mir ein wenig ins Gesicht geschrieben... und trotzdem: Ich weiß, dass ich kein Bild besitze, auf dem ich glücklicher aussehe und auch wirklich bin, als auf diesem Bild. So schaue ich mich selbst an und stelle missmutig fest, dass dieser Gemütszustand mit äußeren Faktoren zu tun hatte – mit Musik. Mit einer Person. Mit anderen Personen. Mit Sonne.

Das ist ja alles schön und gut, nur warum machen wir unsere inneren Zustände so oft abhängig von äußeren Einflüssen? Warum sind wir so schnell traurig, wenn etwas mal nicht so klappt, wie wir es uns wünschen? Warum nehmen wir uns so selten die Ruhe, mal eine Nacht über eine Situation zu schlafen, anstatt uns stundenlang den Kopf zu zerbrechen? Wann verstehen wir endlich, dass andere Menschen nicht automatisch unsere Gedankengänge kennen, auch wenn sie uns selbst noch so logisch und nachvollziehbar erscheinen? Warum können wir am Ende des Tages den Tag nicht einfach abhaken, anstatt nachtragend in die Federn zu fallen?
Oder, um es mal auf den Punkt zu bringen: Wann feiern wir endlich wiedermal die Existenz unseres inneren Kindes, das glücklich ist, weil es einfach Lust hat, glücklich zu sein?

Hm.


Ich will nicht, dass mein Nachbar weiter schreit. Ich will, dass er sich versöhnt und wieder lieb ist.

Ich will, dass meine Freundin auf ihrem Drahtesel sicher durch die gefährlichen Straßen unseres Viertels kommt und nicht angepöbelt wird von posttraumatisierten Kriegsveteranen.

Ich will immer so glücklich sein und aussehen, wie auf dem Foto. Auch, wenn es dunkel ist. Auch, wenn die Musik aus ist. Und auch, wenn mal niemand hinter mir steht, mich hält und von meiner Glückseeligkeit ein Foto schießt.

© 2012 Ani

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